Dienstag, 30. Dezember 2008

1892 - 1939: Ära Stroß mit Bildanhang


Das Unternehmen Stroß im westböhmischen Liebauthal begann nach mehreren vorausgegangenen Zusammenbrüchen der von den Brüdern Franz und Ferdinand Lenk von Königsberg a. d. Eger aus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten Textilfabrik im Jahre 1892 mit Sigmund Stroß und endete 1939 mit der Enteignung seiner Aktionäre und der Flucht von Walter Stroß infolge der Okkupation des "Sudetenlandes" durch Hitler-Deutschland. Während die Ära Lenk immer wieder schwere wirtschaftliche Turbulenzen zu bestehen hatte, kennzeichnete die Ära Stroß vor allem die hohe Qualität ihrer Produkte, die weltweit Absatz fanden. Gemeinsam war aber beiden, dass sie zahlreichen Menschen aus Liebauthal und seiner Umgebung eine einigermaßen gesicherte Verdienstquelle boten.


Sigmund Stroß aus dem böhmischen Weißwasser (Bĕlá pod Bezdĕzem) nordwestlich von Jungbunzlau (Mladá Boleslav) hat am 6. Juli 1892 die Fabrik in Liebauthal (laut dem Königsberger Historiograph Johann Jagd) „um den Kaufschilling von 135000 Gulden erworben“. Verkäufer waren wahrscheinlich die Erben der Brüder Lenk, die das Unternehme 1876 in die Firma Lenk u. Co. umgewandelt , es aber 1890 stillgelegt hatten. Bis dahin im Unternehmen führend tätig war Georg Lenk, der Sohn des Mitbegründers der Firma Ferdinand Lenk. Einem im Jahr der Übernahme durch Sigmund Stroß angelegten „Arbeiterbuch“ ist zu entnehmen, dass jetzt (wieder) erhebliche Einstellungen von Arbeitskräften vorgenommen wurden. Die eigene Aufnahmen unten zeigen das Titelblatt und eine Seite des Arbeiterbuches, das sich im Archiv der Gemeinde Libavske Udoli befindet.



Beteiligt an der heruntergekommenen Spinnerei und Weberei war eine weitere Person namens Ginsberg, denn das neue Unternehmen firmierte zunächst als „Baumwollspinnerei und Weberei GINSBERG und STROSS“. Sigmund Stroß war verheiratet mit Eva Ginsberg, geboren am 15.7.1866 im damals zum Russischen Reich gehörendem Łodź, einer Großstadt westlich von Warschau, die im 19. Jahrhundert wegen ihrer gewaltigen Textilindustrie als „polnisches Manchester“ galt. Bereits 1907 aber wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft unter der Bezeichnung „Firma NOE STROSS A.-G. der vereinigten Textilfabriken Liebauthal und Weißwasser“ umgewandelt.

Benannt war die neue Aktiengesellschaft nach dem 1822 in Mährisch-Weißkirchen (Hranice na Moravé) geborenen Noe Stroß. Noe Stroß (Foto links, Bildgeberin und Copyright Bridget Laky, San Francisco, Urenkelin des Abgebildeten), verheiratet mit einer Josefine Wolf, soll ursprünglich Lehrer gewesen sein und war Kultusvorsteher der jüdischen Gemeinde seines Heimatortes (in "Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart, Brünn, 1929, S. 383), wechselte aber das Metier und begann einen Textilhandel, indem er bei lokalen Webern von diesen produzierte Ware aufkaufte, um sie weiterzuverkaufen. Mit dem Gewinn aus dieser Verlagstätigkeit erwarb er eine kleine Weberei im böhmischen Weißwasser. Das Ehepaar Stroß hatte neben einer Tochter drei Söhne: Ludwig, geboren 1853 in Mährisch-Weißkirchen, den am 29.3.1864 ebenfalls in Mährisch-Weißkirchen Gustav und oben den bereits erwähnten Sigmund. http://www.historie.hranet.cz/pdf/rabbinowicz1929.pdf

Das Unternehmen in Weißwasser florierte offenbar, und als Noes Sohn Gustav Stroß eine Irene Groak heiratete, ernannte der Senior ihn zum Chef in Weißwasser und baute ihm nahe der Fabrik ein großes Wohnhaus. Darin lebte Gustavs Familie (Kinder: Josef und Victor) im Erdgeschoss, während das Geschoss darüber Noes ältester, in Wien lebender Sohn Ludwig für Ferienaufenthalte nutzte. „Beide Familien liebten das Haus, den Garten und den dazugehörenden Tennisplatz“, zitiert Bridget Laky, geboren als Brigitte Stroß und Urenkelin von Noe Stroß, aus Aufzeichnungen ihrer Mutter Lilli Stroß, und „eindrucksvolle Medaillons aus Eisen mit den Initialen NS schmückten jede nur erdenkliche Stelle; sie befanden sich über allen Fenstern und waren am hohen Eingangstor zum Hof angebracht“. Auch Noe Stroß lebte wahrscheinlich bis zu seinem Tode im Jahre 1892 in diesem Haus.

Ludwig Stroß wird Chef des Gesamtunternehmens
Der Hauptsitz der Noe Stroß-Aktiengesellschaft befand sich in Wien I, Salzgries 15, im Textilzentrum der Stadt, die seinerzeit noch die politische und wirtschaftliche Metropole der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war. Oberster Chef der Aktiengesellschaft und damit des Gesamtunternehmens wurde Noe-Sohn Ludwig Stroß (Foto rechts, Bildgeberin und Copyright Bridget Laky, San Francisco), der allerdings bereits ab etwa 1883 in Wien ansässig war und dort vermutlich damals schon die Geschäftsinteressen des väterlichen Unternehmens in Weißwasser vertrat.

Ludwig Stroß war mit der am 11.3.1861 in Miskolcz (Ungarn) geborenen Vilma Propper verheiratet. Am 7. 9. 1883 kam ihr Sohn Walter in Wien zur Welt. Und eben jener Walter Stroß ist es, der mit erst 30 Jahren die Gesamtführung des Unternehmens als „Direktor und Verwaltungsrat“ übernehmen wird, nachdem 1913 Ludwig Stroß an einem Herzanfall verstarb. Bis dahin war Walter Stroß bei seinem Onkel Sigmund in Liebauthal tätig (dazu unten mehr).

Sigmund Stroß, der nach dem Erwerb der Liebauthaler Fabrik in Liebauthal in dem um 1840 erbauten „Herrenhaus“ (Foto links das Herrenhaus von hinten aus den 1930-er Jahren) residierte und 1894 Vater seines einzigen, in Liebauthal geborenen Kindes Wilhelm Stroß (Foto rechts, Bildgeberin und Copyright Bridget Laky, San Francisco) - später Arzt und Mitaktionär des Unternehmens - wurde, hat seit Erwerb des Werks in Liebauthal das Gesicht der Kolonie (wohl stets in Absprache mit den Brüdern in Weißwasser und Wien) einschneidend neu geprägt.


Aufstieg zur Weltfirma

Zur eindrucksvollsten Veränderung und erheblichen Vergrößerung des Ortes trug vor allem der Bau dreier Reihen mehrstöckiger Wohnhäuser (eigenes Foto aus dem Jahre 1990 zeigt Gebäude der oberen und mittleren Reihe) für Arbeiter und „Beamte“ des Werkes bei, die nun nicht mehr teilweise schwierige Wege von der Umgebung an ihre Arbeitsstelle benötigten. Das elfte und letzte dieser Gebäude mit den Nummern 73 und 74 entstand etwa 1921.

Mindestens eben so wichtig und zukunftsträchtig wie die Bereitstellung (bezahlbarer) Wohnungen für die Beschäftigten aber war die Erweiterung und Modernisierung der Fabrik, die Verbesserung des Managements und der Arbeitsabläufe. Das alles zusammen genommen erst waren die Voraussetzungen für die Entwicklung des Unternehmens zu einer Weltfirma, Weltfirma in dem Sinne, dass sie ihre hochwertigen Textilien bis in weit entfernte Gegenden, selbst nach Übersee, lieferte.

An dieser Aufwärtsentwicklung hatte Sigmund Stroß‘ Nachfolger (wahrscheinlich ein Verwandter seiner Schwägerin Irene Stroß, geborenen Groak) Dr. Hans Groak maßgeblichen Anteil. Dr. Groak wurde, vermutlich noch während des 1. Weltkrieges, Direktor der Fabrik in Liebauthal. Ob Sigmund Stroß damals noch lebte, ist nicht bekannt. Anna Burkert, eine langjährige Kontoristin im Unternehmen, beschrieb mir gegenüber Dr. Groak als "einen schönen Mann mit rötlich-blondem Haar", der bei Lohnverhandlungen als einsichtiger Unterhändler gegolten habe. Mit seiner Ehefrau, einer geborenen Rosenthal, sowie Tochter Erna und Sohn Hans wohnte er im „Herrenhaus“. Über die Umstände seines frühen Todes im Jahre 1928 existieren mehrere (mündliche) Versionen. Er sei, lautet davon eine, in Wien an einem Gehirntumor verstorben. Es heißt aber auch, er habe sich beim Fahren in seinem eleganten Cabriolet 75 HP Gräf u. Stift, das laut Ida Nüssel, geb. Stelzig, im Jahre 1917 angeschafft worden sei, "erkältet", was dann zu seinem Tod geführt habe. Die dritte Version hingegen spricht davon, dass er zuckerkrank gewesen, früh erblindet und schließlich relativ jung verstorben sei. Pater Cornelius Buchheim, der seine ersten Lebensjahre in Liebauthal verbrachte, erinnerte sich, dass Groaks Leichnam in Karlsbad kremiert und die Urne vermutlich in Wien beigesetzt worden sei.

Der Königsberger Historiograph Johann Jagd schreibt 1932 in der Festschrift zur 700-Jahrfeier der Stadt Königsberg über Dr. Groak:
„Dieser, ein Mann mit hervorragenden kommerziellen Kenntnissen und mit einem hohen Maß von Herzensgüte ausgestattet, hatte kein anderes Bestreben, als den ihn anvertrauten großartigen Fabriksbetrieb noch weiter zu entwickeln und zu vervollkommnen. Er unternahm im Interesse der Fabrik weite Reisen, die ihn bis Nordamerika führten, um Aufträge hereinzubringen: Dabei stand ihm neben dem Interesse seiner Mitaktionäre stets das Wohl und Wehe seiner Arbeiterschaft, deren Zahl mittlerweile auf 1660 und über 100 Beamte angewachsen war, vor Augen. Unter seiner tüchtigen und umsichtigen Leitung entwickelte sich das Unternehmen zur vollen Blüte. Leider wurde dieses kaufmännische Genie, dieser unvergeßliche, warmherzige Menschenfreund, dem Unternehmen und der Arbeiterschaft, die mit großer Verehrung an ihm hing, viel zu früh von der rauhen Faust des Todes entrissen.“.

Dr. Groaks Tochter Erna, die wie ihr Bruder Hans in den 1930-er Jahren in Karlsbad lebte, fiel laut Bridget Laky nach dem „Anschluss“ 1938 den Nationalsozialisten in die Hände, als sie einen Teil ihres Geldes zu retten versuchte. Ihr Schicksal ist unbekannt, Sohn Hans Groak hingegen sei die Flucht nach England gelungen.

Wirtschaftskrise und Streik

Nach Dr. Groaks Tod übernahm Walter Stroß (Foto links, Bildgeberin und Copyright Bridget Laky, San Francisco), bis dahin - wie erwähnt - bereits Präsident des Gesamtunternehmens (und mit 51 % des Aktienkapitals Mehrheitsaktionär), noch zusätzlich das Direktorium für Liebauthal und verlegte die gesamte Geschäftsführung von Wien hierher. Veranlasst zu diesem Schritt hatte ihn auch die sich im Gefolge der Welt-Finanzkrise Ende der 1920-er Jahre einstellende Krise der tschechoslowakischen Textilindustrie. Die damit einhergehende rapid sinkende Güternachfrage vor allem des Auslandes wirkte sich auch drastisch auf die Liebauthaler Fabrik aus. Beschäftigte sie vor 1930 noch rund 1700 Arbeitskräfte, waren es laut dem Gedenkbuch der Stadt Königsberg im Jahre 1931 nur noch 900. Am 1. Juli 1931 schließlich war, wie es dort außerdem heißt, "die gesamte Arbeiterschaft von Liebauthal wegen fortgesetzter Lohnkürzung in den Streik" getreten, der bis zum 13. Juli dauerte. Dabei handelte es sich offenbar um einen "wilden Streik", in dessem Gefolge der Fabrikbeschäftige und Angehörige des Betriebsausschusses Georg Fuhrmann (Foto links, Bildgeberin Frau Waltraud Fuhrmann, geb. Hoyer) von der Noe Stroß A.-G. entlassen wurde. Seine Beschwerde dagegen wurde aber am 13.9.1931 von einer in Falkenau tagenden Schiedskommssion zurück gewiesen. Fuhrmann verlor damit nicht nur endgültig seinen Arbeitsplatz, sondern musste auch seine Werkswohnung räumen. Der Streik vom Juli 1931 hatte sogar die Union der Textilarbeiter in Reichenberg auf den Plan gerufen. In einer handschriftlich verfassten Mitteilung vom 7.8.1931 unter dem Betreff "Streik in Liebauthal" heisst es eingangs: "Bevor es in Liebauthal zur Lohnbewegung kam, habe ich unter Zustimmung des Vorstandes die Bewilligung zur Kündigung des Vertrages erteilt, jedoch gleichzeitig in dem Telegramme bemerkt, dass mit der Zustimmung zur Vertragskündigung noch keine Streikbewilligung erteilt wurde". Weiter heisst es in dem Schreiben: "Bei jeder Lohnbewegung ist es die Aufgabe unserer angestellten Funktionäre in Gemeinschaft mit den Betriebsvertrauensleuten und den Mitgliedern alles zu versuchen, um einen befriedigenden Abschluss der Lohnbewegung herbeizuführen. . . . Der Verband und seine Leitung wurden ganz unberechtigt von einzelnen Leuten angegriffen und herabgesetzt" und Herr Fuhrmann werde "aller Wahrscheinlichkeit nach noch den Beweis für seine Beschuldigung zu erbringen haben" (um welche Beschuldigungen Fuhrmanns es sich handelte, geht aus dem Schreiben allerdings nicht hervor - S. T.). Die Belegschaft sei "über Anraten der Vertrauensleute in den Streik getreten, ohne dass vorher die Zustimmung zum Streik beim Unionsvorstand eingeholt wurde. . . . Wir haben auch festgestellt, dass sich in der Zeit der Lohnbewegung in Liebauthal und Königsberg Bolschewistische Emissäre herum trieben und nach Weisungen der bolschewistischen Partei arbeiteten". In dem Brief wird dann noch darauf hingewiesen, dass der Unionsvorstand "vorläufig nur das Mitglied Fuhrmann aus der Orgaisation ausgeschlossen" habe und dessen Auschluss "im Interesse einer zukünftigen gedeihlichen Gewerkschaftsarbeit in Liebauthal nicht zurück genommen werden" könne. Während es nach diesen Turbulenzen aber in Liebauthal offenbar wieder etwas aufwärt ging, entschied die Unternehmensführung die Schließung des Werkes in Weißwasser, was 1933 zum Umzug rund 30 tschechischer in Weißwasser von Arbeitslosigkeit bedrohter Fabrikangehöriger mit ihren Familien nach Liebauthal führte.

Zurück zu Walter Stroß: Obwohl nach dem Tod seines Vaters Ludwig Stroß im Jahre 1913 als dessen Nachfolger in Wien lebend, hatte Walter Stroß gleich nach Gründung der Tschechoslowakei deren Staatsbürgerschaft beantragt - „um Schwierigkeiten zu vermeiden“, wie Lilli Stroß diesen Schritt in ihren Aufzeichnungen erklärt. Die neue Staatsbürgerschaft erhält er bereits am 5. September 1919, nachdem, wie es in der deutschen Übersetzung der tschechisch verfassten Mitteilung dazu heißt, „mit Beschluß der Gemeindevertretung der Gemeinde Kogerau (wozu Liebauthal gehört) vom 15. Juli 1919 Ihnen die Aufnahme in den Heimatverband der Gemeinde Kogerau zugesichert wurde und Sie aus dem österreichischen Staatsverband entlassen worden sind“.

Als Reaktion auf die tschechoslowakische Staatsgründung hatte man auch in der Firmenbezeichnung den Ortsnamen des zweiten Fabriksitzes von Weißwasser in Bĕlá pod Bezdĕzem geändert, wahrscheinlich als Entgegenkommen an den Umstand, dass hier vor allem Tschechen lebten. In der Familie Stroß hingegen wurde nur Deutsch gesprochen.

Walter Stroß zieht von Wien nach Liebauthal um
Als Nachfolger Dr. Groaks verließ Walter Stroß mit seiner Familie am 31. März 1932 Wien sowie eine 1923 in Wien-Pötzleinsdorf erbaute Villa und übersiedelte nach Liebauthal. Freilich: dieser Ort war ihm - abgesehen davon, dass er dort ja, siehe oben, seit 1919 „Heimatrecht“ besaß - nicht fremd. Nach Besuch einer Textilfachschule (was laut seiner Tochter Bridget Laky eher unwillig geschehen sei) hatte er sich in der Fabrik seines Onkels Sigmund ab 1907 Erfahrungen in der Praxis erworben. Während dieser Zeit in Liebauthal heiratete er auch zum erstenmal, die aus Wien stammende Marta Karlweiss mit der er die beiden in Liebauthal geborenen Töchter Bianca (* 1909) und Emmy (* 1911) hatte. Doch trotz Umzug vom Rand der Monarchie in die heimatliche Metropole Wien zur Übernahme der A.-G.-Präsidentschaft ging diese Ehe in die Brüche, und Marta Karlweiss heiratete später den berühmten Schriftsteller Jakob Wassermann, den sie bereits 1915 kennen gelernt hatte. http://user361.pre.apconsult.at/img/Karlweiss.pdf

In Wien, das nach dem 1. Weltkrieg nur noch Hauptstadt des kleinen Österreichs war, heiratete Walter Stroß 1921 ein weiteres Mal, die ebenfalls aus der Donaustadt stammende Lilli Bernfeld (Foto links, Bildgeberin und Copyright Bridget Laky, San Francisco). Aus dieser Ehe gingen die beiden in Wien geborenen Töchter Eva (* 1922) und Brigitte ( 1924-2009) hervor (rechtes Foto: rechts Eva Stroß, links Brigitte Stroß, diese die Bildgeberin und Inhaberin des Copyrights Bridget Laky, San Francisco).

Bereits wenige Jahre nach Übernahme der Doppelfunktion als Präsident des Gesamtunternehmens und als Direktor der Fabrik in Liebauthal durch Walter Stroß geriet das Unternehmen erneut in Gefahr. Diesmal nicht aus wirtschaftlichen Gründen sondern als Folge der zunehmenden Einflussnahme Hitler-Deutschlands auf die deutschsprechende Bevölkerung der Tschechoslowakei. Lilli Stroß beschreibt in ihren Erinnerungen die Lage ihrer Familie vor dem eigentlichen Anschluss des „Sudetenlandes“ an den NS-Staat so: „Es wurde zunehmend schwieriger für uns alle, da wir unter dem Schatten Hitlers standen. Während die Nazis den Krieg vorbereiteten, präparierte Henlein, der Führer der Sudentendeutschen, diese für Hitlers Philosophie (wozu bekanntlich ein aggressiver Antisemitismus gehörte - S.T.). Und obwohl wir wussten, dass wir persönlich wohl gelitten waren, waren nicht nur wir von dieser Situation betroffen, sondern auch die Leute um uns her. So lebten wir in einer Art „splendid isolation“ (= angenehme Isolation) in unserem bequemen sogenannten Herrenhaus“.

Warum sie dennoch zunächst blieben, darauf suchte Lilli Stroß später im Exil eine Erklärung: „Nach sechs Jahren harter Arbeit hatten Walter und seine Mitarbeiter die (wirtschaftliche) Krise überwunden, die Zukunft des Unternehmens schaute wieder rosig aus. Ein neuer Elektrogenerator, mit großen Kosten installiert, machte die Fabrik unabhängig von der (vorher) etwas erratischen Stromversorgung. Warum geschah das? Warum konnte Walter nicht die Gerüchte über die heimlichen Gräuel der Nazis glauben? Warum glaubte er an menschlichen Anstand? An Menschenrechte? An die deutsche Kultur? Keine Antwort.“.

Flucht vor den deutschen Invasoren

Als Hitler Anfang Oktober 1938 mit dem sogenannten „Münchener Abkommen“ in der Hand die deutschsprachigen Gebiete der ČSR militärisch okkupierte und als "Reichsgau Sudetenland" in sein Großdeutsches Reich eingliederte, befand sich die Familie Stroß auf Urlaub in Italien, wohin sie – möglicherweise die sich abzeichnenden politischen Veränderungen ahnend - vermutlich mit ihrem Auto der Marke Tatra gefahren waren. Man brach den Urlaub sofort ab, kehrte aber nicht nach Liebauthal zurück sondern fuhr in das damals noch unbesetzte Prag, wo Walter Stroß ein kleines Büro einrichtete, in dem er weitere Flüchtlinge aus Liebauthal aufnahm, darunter auch Manfred Bernfeld (Foto rechts, Bildgeberin und Copyright Bridget Laky, San Francisco), Bruder von Lilli Stroß und seit 1932 Prokurist in Liebauthal. Während Walter und Lilli Stroß in Prag ausharrten, „noch immer hoffend, dort sicher zu sein“, schickten sie ihre beiden Töchter nach England, die als Bürgerinnen der ČSR dafür kein Visum benötigten.

Sicher in Prag? Diese Hoffnung erwies sich bald als Illusion, spätestens am 15. März 1939. Hitler begnügte sich bekanntlich nicht mit der Einverleibung des „Sudetenlandes“ in sein Reich, er zerschlug auch noch die „Rest-Tschechei“, wie die zunächst nicht besetzten Landesteile im Sprachgebrauch des Diktators hießen. Einen Tag nach Hitlers Marsch den Wenzelsplatz hinunter versuchte das Ehepaar Stroß über Eger auszureisen, wurde dort aber zurück gewiesen. „Jude zu sein und dazu noch Fabrikeigentümer war aus Sicht der Nazis ein doppeltes Verbrechen.“, erklärte später Lilli Stroß die Zurückweisung. Ein anderer Grund könnte aber auch gewesen sein, dass der für den Übertritt ins „Reichsgebiet“ erforderliche „Durchlaßschein“ (rechts, Eigentümerin Bridget Laky, San Francisco) erst ab 17. April gültig war. Sofort beantragten die beiden Fluchtbereiten ein Ausreisevisum nach Italien. Was ihnen tatsächlich auch gelang, wenngleich nur gegen „ein kleines Vermögen“ als Bestechung für einen jungen Nazi-Offiziellen und dessen tschechischer Freundin. Der in Prag zurück gebliebene Prokurist Manfred Bernfeld (siehe oben) fiel hingegen den Deutschen in die Hände, wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er am 6. 6. 1944 umkam (mitgeteilt von seinem Sohn Jan Jecha, ehemals Hans Günther Bernfeld).

Noch in der Nacht nach dem Verlassen Prags erreichten die Eheleute Stroß München, wo sie einen Zug nach Italien bestiegen. Obwohl danach bereits durch Österreich in Richtung Brenner fahrend, war ihnen bewusst, sich immer noch auf Nazi-Territorium zu befinden. denn Österreich war schon im Frühjahr 1938 dem Hitler-Reich einverleibt worden. Deshalb blieb Lilli Stroß trotz Schlafbedürfnis wach, denn „alles konnte noch passieren“ nennt sie in ihren Erinnerungen die Situation während der Passage durch Österreich. Bis laute Stimmen und Bewegungen vor der Tür vernehmbar waren. „Ich hielt den Atem an und lauschte“, schilderte sie ihre Eindrücke von damals, „laute Worte, ja, aber keine harten, ärgerlichen. Es waren schnelle, rollende und melodiöse Worte, italienische Worte, italienische Stimmen“. Und als der Zug bergab in Richtung Italien dampfte, hörten die beiden Flüchtenden aus dem Geräusch der Räder den triumphierenden Gesang: „Hinunter in die Freiheit, in die Freiheit, in die Freiheit“.

Fluchtpunkt England

Wie Lilli Stroß in ihren Erinnerungen weiter schreibt, hatten sie bereits in Prag Visa für die USA beantragt und gehoffte, diese nun in Florenz bald ausgehändigt zu bekommen. „Doch nach mehreren Gesprächen erfuhren wir“, fährt sie fort, „dass es (bis zur Visaerteilung) wahrscheinlich drei Jahre dauern würde.“. Da sie aber Besuchervisa für die Schweiz besaßen, konnten sie von Zürich aus nach England fliegen. Ihre ursprüngliche Absicht, per Zug zu fahren, war daran gescheitert, dass ihnen Frankreich die Durchfahrt verweigerte. Lilli Stroß: „Wir waren offiziell Flüchtlinge geworden“. Bei der Ankunft in England kamen die beiden sich sogar wie „first class“-Flüchtlinge“ vor, weil von hier aus Verhandlungen über den Verkauf der Fabriken weiter geführt wurden und immer noch die Hoffnung bestand, dass einiges Geld aus der Tschechoslowakei transferiert und persönliches Hab und Gut für den Schiffstransport freigegeben würde. Doch alle diese Hoffnungen zerbrachen mit dem Kriegsausbruch im September 1939.

In den folgenden sechs Jahren lebte das Ehepaar Stroß vornehmlich in möblierten Zimmern in oder bei Manchester, gelegentlich zusammen mit ihren beiden Töchtern, die in England ihre Schulausbildung beendeten. Obwohl als Bürger der Tschechoslowakei unter dem Begriff „friendly aliens“ (= befreundete Fremde) eingeordnet, konnten Walter und Lilli Stroß nur mit spezieller Erlaubnis Arbeit annehmen, sie unterrichtete in „war-time day nurseries“ (eine Art Vorschule), er schrieb Artikel für Textil-Zeitschriften, versuchte aber, wenn auch vergeblich, in der Textilindustrie Fuß zu fassen. Erst nach einem Kurs für Metallarbeit erhielt er eine Stelle in einem Betrieb, der Maschinen herstellte, und avancierte bald zum Vorarbeiter – bis sein Herz „rebellierte“. Auf ärztlichen Rat hin gab er diese Arbeit wieder auf, besuchte aber eine Kunstakademie und begann nach Darstellung seiner Ehefrau „phantasievolle Muster für Webwaren“ zu entwerfen.

Wieder zurück nach Liebauthal?

Schließlich war der Krieg zu Ende. Für das Ehepaar Stroß stellte sich nun die Frage einer Rückkehr in die Tschechoslowakei. Lilli Stroß dazu in ihrer Erinnerung: „Wir hatten aber vom Schicksal der Sudetendeutschen gehört und dass die Tschechen jetzt nationalistischer waren als vorher. Und wir waren keine Tschechen.“. Dennoch erkundigte sich Walter Stroß nach Möglichkeiten einer Rückkehr nach Liebauthal, zumal ihm Abteilungsdirektoren der Fabrik inzwischen zwei Berichte zur Lage zugeschickt hatten. Da erhielt er am 7. März 1946 von seinem Anwalt einen Zeitungsausschnitt, aus dem hervorging, dass alle Betriebe in der Tschechoslowakei mit mehr als 400 Beschäftigten „nationalisiert“ würden, darunter ausdrücklich genannt die frühere Noe Stroß A.-G. mit ihren 1400 Arbeitern. „Wir haben also“, so Lilli Stroß rückblickend, „zum zweitenmal verloren“. Einen Tag nach Erhalt der bösen Nachricht aus der alten Heimat, in der Nacht vom 8. auf den 9. März, starb Walter Stroß an einem Herzanfall.

Zu Ende war die Ara Stroß in Liebauthal jedoch längst vor dem Tod des letzten Präsidenten des Unternehmens de facto mit dem „Anschluss“ der deutsch-sprachigen Gebiete der ČSR an Nazi-Deutschland und der Flucht seiner als Juden besonders gefährdeten Aktionäre und Leitungskräfte. Den eigentlichen "Arisierungs"-Vorgang, wie er im „Reich“ bereits seit Beginn der Hitler-Diktatur als Raub jüdischen Vermögens eifrig praktiziert wurde, beschreibt eine kurze, im Besitz von Frau Bridget Laky befindliche Zeitungsnotiz jener Tage als geradezu normalen Eigentumstransfer:
Bei der „Ascher Industriellengruppe“ handelte es sich um die Firma Fischer & Co., deren neu erworbener Besitz nach dem Erlöschen der Aktiengesellschaft am 31. 12. 1939 einen neuen Namen erhielt: „Liebauthaler Textilwerke Fischer & Co., OHG“. Nach dem Krieg soll sich diese Firma in Zusmarshausen bei Augsburg angesiedelt haben.

Die Umwandlung der Noe Stroß A-G. in die neue Firma war in Wirklichkeit die Enteignung der ursprünglichen Aktieninhaber, einer davon Walter Stroß, der mit 51 Prozent die Aktienmehrheit besaß. Wer davon außerdem noch betroffen war, geht aus einer „Bekanntmachung“ der Geheimen Staatspolizeidienststelle Karlsbad vom 18. Juli 1940 hervor (entnommen der Schrift "Farben der Vergangenheit", Seite 63):

In einem Schreiben des Vermögensamtes beim Deutschen Staatsministerium für Böhmen und Mähren in Prag vom 23. Juni 1943 an die Firma Fischer & Co. in Liebauthal wird noch einmal darauf hingewiesen, dass das Vermögen „der Judeneheleute Walter und Lilly Stross, sowie Dr. Wilhelm und Dr. Gertrude Stross, zul. in Prag II, Reichard-Ufer 10“ . . . „zu Gunsten des Großdeutschen Reichs für verfallen erklärt worden“ sei. Weiter heißt es: „Zu dem beschlagnahmten Vermögen gehören u. a. 21587 Stück Noe-Stross-Aktien.“ (rechts Ausschnitt einer solchen Aktie, Eigentümerin Bridget Laky) und die „Aktieninhaber sollen von Ihnen (der Firma Fischer & Co. – S. T.) – als Rechtsnachfolgerin – abgefunden worden sein".

Frau Bridget Laky befragt, ob sie über einen Erlös für die Aktien etwas wisse, antwortete mir: „Unglücklicherweise habe ich keine Ahnung, wo das Geld für die Aktien blieb. Sicher ist jedenfalls, dass es nicht in unseren Koffern war.“. Gemeint sind die Koffer, welche die Familie Stroß auf ihrer Flucht vor den Nazis nach England bei sich hatte. Erst nach Übersiedlung in die USA erhielten die Angehörigen des verstorbenen Walter Stroß von Deutschland eine Art Entschädigung für ihren Vermögensverlust durch die NS-Enteignung: die Witwe Lilli Stroß 20000 Dollar, die Töchter je 10000 Dollar

Siegfried Träger